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Wie Roboter laufen lernen
Um die effizienten Prozesse der eigenen Linienfertigung nicht mit flexiblen Vorgehensweisen der Sonderfertigung zu vermischen, gründete Hermle 1998 im nahegelegenen Tuttlingen die Tochtergesellschaft Hermle-Leibinger Systemtechnik GmbH (HLS) für Hermle-spezifische Automatisierungslösungen. Dort entwickeln und produzieren mittlerweile über 50 Mitarbeiter unterschiedlichste Robotersysteme bis zu einer Gewichtsklasse von 1000 kg, kundenindividuelle Sonderlösungen für flexible Fertigungssysteme sowie innovative Werkstückspannvorrichtungen und Handlingsysteme.
Die Flexibilität sowie die Automatisierung der Fertigungsanlagen bestimmen zunehmend über den wirtschaftlichen Erfolg eines produzierenden Unternehmens. Ein Großteil der Kunden der HLS fertigt Lose von maximal zehn Teilen. Um dennoch die Maschinen optimal auszulasten, benötigen sie schnelle Reaktionsfähigkeit auf unterschiedliche Bedarfe. Dieselben Anlagen müssen in der Lage sein, verschiedene Werkstücke gleichermaßen präzise, qualitativ hochwertig sowie im schnellen Wechsel zu bearbeiten. Diese Fertigungsflexibilität muss meistens in einer dritten Schicht sichergestellt sein. Selbst bei einer Losgröße von 1 und einer Werkstück-Bearbeitungszeit von mehreren Stunden entscheidet die Maschinenauslastung über die Rentabilität. „Die wirklichkeitsgetreue Simulation wird ein immer größeres Thema“, sagt Rainer Kohler, Geschäftsführer der Hermle-Leibinger Systemtechnik GmbH. „Die Verifizierung von Systemen bereits in der Planungsphase wirkt sich erheblich auf unsere Produktionskosten aus.“ Die Software Process Simulate erweitert die Simulationsmöglichkeiten, die HLS bereits frühzeitig einsetzte. Aus dem 3D-CAD-System NX erzeugte man kleine Videos im AVI-Format, um anhand der bewegten Bilder wichtige Problemhinweise zu erhalten. Während der Definition des Anlagenlayouts mit der Magazinauslegung konnten mit NX bereits Kollisionsprüfungen zwischen Werkzeug, Werkstück und Vorrichtungen sicher und fehlerfrei erledigt werden. Ebenso wurden erste, rudimentäre Erreichbarkeitstests durchgeführt.
Fehlerquellen minimieren
Aber für das Herzstück der Automatisierung – die Visualisierung und Verifizierung des kompletten Verfahrweges eines Roboters – bietet das CAD-System mit seinen begrenzten Animationsmöglichkeiten keine Unterstützung. Mögliche Schwierigkeiten, wie Kollisionen zwischen Werkstücken und Regalen beim Be- und Entladen oder für den Roboterarm unzugängliche Anlagenbereiche, lassen sich nur schwerlich und ungenau identifizieren. „Wir wollten wie im CAD-Bereich im Vornherein zu hundert Prozent sicher und fehlerfrei sein. Mit Process Simulate erreichen wir das“, sagt Rainer Aicher, Gruppenleiter Mechanische Konstruktion und maßgeblicher Anwender von Process Simulate bei HLS.
Ein wesentlicher Vorteil dabei ist die tiefe Integration zwischen dem CAD-System NX und Process Simulate über die PDM-Lösung Teamcenter. Via den 3D-CAD-Modellen im schlanken JT-Format haben die HLS-Systemtechniker alle Geometrieinformationen zur Hand und arbeiten so mit einem realitätsgetreuen virtuellen Anlagen-Abbild. Nach der Programmierung des Roboter-Verfahrweges starten sie in Process Simulate die Simulation und überprüfen sämtliche Bewegungsabläufe auf Kollisionen und Erreichbarkeiten. Weitere dynamische Elemente in der Anlage, wie beispielsweise sich öffnende und schließende Türen oder sich drehende Tischplatten, werden über einen integrierten Editor ebenfalls kinematisiert, um einen hohen Realitätsgrad der Simulation zu garantieren. Entscheidende Situationen wie das Be- und Entladen werden mit unterschiedlichen Werkstücken unter Berücksichtigung der nötigen Toleranzen durchgespielt und mögliche Kollisionen klar visualisiert. Die detaillierte 3D-Darstellung vermittelt ein intuitives Verständnis von Problemsituationen und erleichtert die Kommunikation zwischen den verantwortlichen Technikern. Die Erkenntnisse aus den effizienten Tests fließen direkt in die Optimierung der Anlage ein und führen weit vor der Inbetriebnahme zu einem gesicherten Ablauf.
Zusätzlich liefert Process Simulate den HLS-Technikern die Basis für eine automatische Basevermessung, die den Zeitaufwand für die spätere Programmierung wesentlich reduziert. Alle Anfahrpunkte des Roboters werden in Process Simulate exakt ermittelt und an ein eigens entwickeltes Abtastprogramm übergeben, mit dessen Hilfe die Kalibrierung vollständig automatisiert wird. Der mühevolle manuelle Prozess, bei dem trotz der hohen Expertise der HLS-Techniker Fehler nicht auszuschließen waren, gehört nun der Vergangenheit an. „Die automatische Basevermessung, die wir mit Process Simulate und dem von uns entwickelten Zusatztool realisiert haben, beschleunigt die Entwicklung erheblich. Der Vorgang, der früher mehrere Tage beanspruchte, ist jetzt in zwei Stunden erledigt“, sagt Rainer Aicher.
Gelungener Auftakt für die virtuelle Inbetriebnahme: Mit Process Simulate erreicht HLS das gewünschte Ziel, bereits während der Planungsphase die Roboterprozesse mit realistischem Verhalten zu entwerfen und zu überprüfen. Durch die verifizierten Systeme sind potenzielle Probleme frühzeitig identifiziert, die Fehler gehen gegen Null und die zeitintensiven Nachbesserungen fallen weg. Die späteren Inbetriebnahmen der Produktionssysteme mit nun validen Montagevorgängen verlaufen bei weniger Aufwand dadurch schneller. „Wir sind nicht nur effizienter und sparen dadurch erheblich an Kosten ein. Viel wichtiger ist, dass wir unsere Termintreue den Kunden gegenüber signifikant verbessert haben“, sagt Rainer Kohler.
Mit der erfolgreichen Etablierung von Process Simulate in den Entwicklungsprozess absolviert die Hermle-Leibinger Systemtechnik die erste Etappe ihrer ehrgeizigen Version von der vollständigen virtuellen Inbetriebnahme der automatisierten Bearbeitungszentren. Ziel ist es, Kundenanlagen als hundertprozentige virtuelle Abbilder mit allen Bewegungsprozessen im internen System zu speichern. Damit kann man noch schneller auf Probleme oder Wartungsbedarf reagieren und den Service für die Kunden noch weiter ausbauen. ee