News + Fachartikel

Tradition trifft Simulation

Der Luxuswagenhersteller Bentley entwickelte und fertigte seinen neuen Mulsanne komplett in Silicon, bevor eine einzige Schraube bestellt war. Chefredakteur Hajo Stotz beschreibt, wie es durch den Einsatz der Produktionssimulationslösungen von Dassault Systèmes gelang, die Fertigungsprobleme zu lösen, bevor sie überhaupt entstanden.

Ob Linksverkehr oder Küche, Maßeinheiten oder Währung, Humor oder Teatime - die Briten zeichnen sich durch manche Eigenheiten aus. Nicht zuletzt gelten sie als sportbegeistert und rekordverrückt. Auch Walter Owen Bentley war ein leidenschaftlicher Rennfahrer, der bereits etliche Rennen mit von ihm überarbeiteten Autos gewonnen hatte. Doch 1919 beschloss er, selbst Autos und Motoren zu entwickeln und zu bauen: "A fast car, a good car, the best in its class." Aber nach einer kurzen Blütezeit mit einigen Rennerfolgen war Bentley´s Traum mit dem schwarzen Freitag 1929 fast schon wieder beendet: 1930 wurde vom Firmengründer der letzte, selbst entwickelte Bentley vorgestellt, kurz danach ging das Unternehmen in Konkurs und Rolls-Royce übernahm es.

Rückkehr zu alten Werten

Mit dem Mulsanne kommt nun seit 80 Jahren der erste Bentley in die Ausstellungsräume der Händler, den die Bentley-Fabrik in Cricklewood wieder komplett selbst entwickelt hat. Denn seit der Übernahme waren die Bentley-Limousinen mehr oder weniger modifizierte Rolls-Royce-Modelle. So war das bisherige Topmodell Arnage, dessen Nachfolge der Mulsanne jetzt antritt, ein Rolls-Royce Silver Seraph - mit Bentley-B statt Flying Emily auf dem Kühler. Doch 1998 wurde die Zwangsehe geschieden: Bentley wurde vom VW-Konzern übernommen, während Rolls-Royce an den bayerischen Autobauer BMW ging - und seither versucht die Wolfsburger Muttergesellschaft, der Marke wieder einen unverwechselbares Image zu verpassen. Der neue Mulsanne, erhältlich ab rund 300.000 Euro, soll nun die Rückkehr zu den traditionellen Bentley-Werten Sportlichkeit, Eleganz, Komfort und Tradition untermauern. Bentley-Chef Franz-Josef Paefgen: "Der Bentley Mulsanne ist ein völlig neues Auto und steckt voller Innovationen, die in der Hülle eines traditionellen Bentley untergebracht sind. Beispielsweise ist der Motor trotz traditioneller Hubraumgröße völlig neu. Kaum ein Teil aus dem Arnage-Motor hat überlebt. Dank exzessiven Leichtbaus wurde der Antriebsstrang deutlich erleichtert. Damit verbessern wir sein Ansprechverhalten und senken Verbrauch sowie CO2-Emissionen. Im Fahrgastraum sieht der Kunde, typisch für Bentley, nach feiner britischer Art noch mehr Leder, Holz und veredeltes Metall." Diese Rückkehr zu alten Werten hat wohl auch viele potentiellen Kunden überzeugt: Die komplette, geplante Jahresproduktion des Mulsanne ist bereits ausverkauft. Den Erfolg haben die Briten aber auch dringend nötig - denn in 2009 bescherte die edle Tochter ihrer Wolfsburger Mutter ein Minus von 145 Mio. Euro. Doch nachdem nun die teuren Entwicklungsarbeiten für den Mulsanne abgeschlossen sind und das Auto derzeit an die Händler ausgeliefert wird, sieht Paefgen die Zukunft der Marke optimistisch - er rechnet damit, spätestens 2013 wieder auf dem Niveau des Boomjahres 2007 zu sein. Für 2010 geht er von einem Plus von zehn Prozent auf 5.000 weltweit verkaufte Fahrzeuge aus. Wichtigster Hoffnungsträger für Paefgen ist dabei der Neue, der nach einem Ort an der Rennstrecke Le Mans benannt ist. "Unser neues Flaggschiff ist eine Limousine von konsequenter Modernität, die den einzigartigen Charakter der Marke Bentley zum Ausdruck bringt. Er ist elegant, hat dennoch eine unverwechselbar sportliche Note und stellt seine enorme Leistung mühelos zur Verfügung, während in seinem Innenraum hochmoderne Technik von Hand gefertigtem Luxus ergänzt wird", schwärmt der Ex-Audi-Chef. Der Mulsanne wird in Crewe, Ceshire, England - wo etwa 4000 Mitarbeiter beschäftigt sind - teils durch Roboter, teils in Handarbeit gefertigt und wurde dort von Grund auf neu entwickelt und konstruiert.

Anzeige

Baukasten für ein passgenaues PLM

Doch während die Fahrzeug- und Motorentechnik trotz durchaus beeindruckender Leistungswerte eher als konservative Konstruktion bezeichnet werden kann, hat die Art und Weise der Auto- und Fertigungsentwicklung nahezu revolutionäre Züge. Sie sind ein radikaler Wechsel der Art und Weise, wie Bentley heute Autos konstruiert und baut: Bevor auch nur eine einzige Schraube verbaut wurde, war der Wagen bereits komplett in 3D entwickelt und als 3D-Modell in einer digitalen Fabrik gebaut worden. Bentley nutzt dazu die PLM-Software von Dassault Systemès. Dassault stellt den Autobauern einen ganzen Baukasten für ein passgenaues PLM (Product Lifecycle Management) zur Verfügung. Dazu gehören Anwendungen und Dienstleistungen sowie Methoden, die auf die spezifischen Anforderungen abgestimmt sind. Bausteine sind etwa die CAD-Software Catia für die virtuelle Produktdefinition, Simulia, das für realistische Simulationen eingesetzt wird, Delmia, um die digitale Fertigung zu planen und aufzubauen, Enovia, womit sich die Zusammenarbeit und Verwaltung von kompletten Geschäftsprozessen gestalten lässt und 3D-Via, womit Kollegen im Vertrieb oder in der Entwicklung sowie Kunden virtuell und dreidimensional Produkte, Details oder Funktionen erklärt werden können.

Probleme bereits im Design-Prozess lösen

Ian Swann, Bentley Senior Virtual Assurance Engineer, beschreibt, wie 3D-Technologie bei der Entwicklung des Mulsanne verwendet wird: "Wir nutzen die Fertigungs-Simulationswerkzeuge von Dassault, um neue Produkte nahtlos einführen zu können. Durch die Modellierung von insgesamt 831 Fertigungsschritten über 30 Stationen wurde der komplette Fertigungsprozess in 3D simuliert. Auf Basis dieser Simulationen wurde eine detaillierte Bewertung des Fertigungsprozesses vorgenommen. Damit konnten wir potentielle Probleme identifizieren und bereits im Design-Prozess lösen." Im Gegensatz zur bisherigen Bentley-Fertigung laufen heute viele Arbeitsschritte im Engineering und Werkzeugbau parallel. Ingenieure in unterschiedlichen Unternehmensbereichen arbeiten mit 3D-Modellen, einer zentralen Datenbank für produkt- und produktionsmittel-beschreibende Informationen und mit Digital Mock-ups. John Unsworth, Leiter der Computer Aided Design-Strategie bei Bentley, erläutert: "Mit dem Mulsanne haben wir PLM konsequent genutzt, um die Anzahl und Auswirkungen von späteren, technischen Änderungen in der Produktion zu verringern. Diese späten Änderungen kosten Unsummen wegen ihrer Auswirkungen auf alle vorhergehenden Prozesse, Teileänderungen und Montageschritte. Früher speicherten wir Daten aus der Fahrzeugentwicklung und der Produktions- und Fabrikplanung in Datenbanken ab, die nicht miteinander verbunden waren. Informationen wurden in unterschiedlichen Versionen verwendet und kein Anwender hatte die Gewissheit, wirklich mit dem aktuellen Stand zu arbeiten." Das unproduktive Datenmanagement nahm dabei enorm viel Zeit in Anspruch. Bevor das Mulsanne-Entwicklungsprojekt startete, führten John Unsworth und sein Team eine unternehmensweite Umfrage unter allen Anwendern durch. Ziel war es, mit ihren detaillierten Angaben die technische Funktionalität der unterstützenden Applikationen zu erhöhen und Arbeitsabläufe bereichsübergreifend neu festzulegen. Neben Design und Entwicklung sollten auch Produktionsplanung, Disponenten und Einkäufer künftig mit den digitalen 3D-Modellen arbeiten. "Durch die konsequente Vernetzung unserer CAx-Welt wollten wir digitales Konstruieren, Produzieren und Managen möglich machen", beschreibt Unsworth die Systemanforderungen an eine integrierte PLM-Lösung.

Seit 1997 hat Bentley Motors Produkte von Dassault Systèmes im Einsatz. Doch mit der Einführung von Catia V im Jahr 2006 begann Bentley, seine PLM-Strategie konsequent in Richtung einer integrativen Lösung voranzutreiben. Dank der parallelen Anwendung von Catia, Enovia und Delmia ist heute ein integriertes Datenmanagement möglich. Änderungen im Produktdesign, die ein Nutzer unter Catia vornimmt, werden durch automatisierte tägliche Abgleiche direkt in die verknüpfte Definition der Fertigungsprozesse unter Delmia sowie in die unter Enovia gespeicherten Ressourcendaten durchgereicht. Dadurch laufen viele Arbeitsschritte in Entwicklung und Produktionsplanung wesentlich schneller und effizienter ab, als das bis dato der Fall war. "Die PLM-Werkzeuge erlauben es uns", so CAD-Experte John Unsworth, "im gesamten Produkt-Lebenszyklus optimierte Arbeitsmethoden zu nutzen. So waren wir für den Mulsanne in der Lage, Prozesse in der Produktion viel früher zu integrieren als bei vorherigen Projekten. Zudem konnten wir erhebliche Vorteile durch das Collaborative Engineering erzielen."

Zusammenarbeit wird leichter

Durch Collaborative Engineering - das gleichzeitige Arbeiten verschiedener Gruppen und Pesonen an einem Projekt - gelang es Bentley, bereits in der Designphase des Wagens die Produktionsprozesse zu planen und zu verbessern. "Damit sind wir in der Lage, viel mehr Abteilungen in die Prozesse einzubinden", beschreibt Bentley-Ingenieur Ian Swann den Vorteil. "So haben zum Beispiel Aftersales- und Service-Teams frühzeitig Zugang zu unseren 3D-Daten. Das erlaubt es den Teams, mit dem 3DVIA-Composer die technische Dokumentation parallel zur Fahrzeugkonstruktion zu erstellen. So konnten wir erhebliche Zeiteinsparungen erzielen und gleichzeitig das bereichsübergreifende Arbeiten und die Kommunikation verbessern." Dies ist besonders wichtig in einer Branche, die stark von spartenübergreifender Zusammenarbeit geprägt ist und in der in der 65 Prozent der Innovationen im Konstruktionsprozess beim Zulieferer stattfinden. Beispielsweise bei den Türen des Mulsanne: 204 Teile müssen dabei in jede Aluminium-Rohtüre eingefügt werden. Hier wurde Delmia eingesetzt, um die Montage zu optimieren und gleichzeitig andere Bereiche sowie Zulieferer einzubinden. Unsworth: "Die Anregungen der Abteilungen und Partner waren sowohl für die Funktion wie auch die Produktion äußerst nützlich." Das produktionsoptimierte Zusammenfügen dieser vielen Teile wie auch etwa der freie Zugang für Hände oder Werkzeuge sind für die spätere Montage und Wartung enorm wichtig - durch die virtuelle Montage der Türen konnten die meisten der Fehler, die sonst erst in der realen Fertigung entdeckt werden, ausgeschlossen werden. "Mithilfe der PLM-Lösung sind wir nun nicht nur in der Lage, den Fertigungsprozess zu überprüfen", so der CAD-Experte, "sondern wir können ihn tatsächlich bereits fehlerfrei gestalten, bevor auch nur die erste Schraube verfügbar ist."

"Daten werden lebendig"

Die Grundlage für die integrierte PLM-Lösung ist die gemeinsame Datenbank. Alle Daten werden in Enovia geführt, und alle Abteilungen und Lösungen können darauf gleichzeitig zugreifen. Dieselben Daten sind in Delmia hinterlegt, wo die Fertigung geplant und simuliert werden kann, parallel zur Fahrzeugentwicklung. John Unsworth: "Wir haben einen Datensatz - und auf den greifen Design, Entwicklung, Konstruktion und Fertigung zu. Wir führen keine getrennten Daten mehr in den verschiedenen Abteilungen. Alle Bereiche haben Zugriff auf die Enovia-Datenbasis." Auf diese Weise war es Bentley erstmals möglich, nicht nur das Auto, sondern auch die komplette Fertigung weit im Vorfeld der realen Produktion virtuell zu bauen. Nur so konnte nach Überzeugung von John Unsworth die technische Komplexitität und der hohe Qualitätsstandard des Mulsanne, das Gemisch aus traditionellen Herstellungsmethoden und Roboter-Einsatz, handverarbeitete Hölzer und Leder und modernste Composite-Materialien, erreicht werden. "PLM hat uns geholfen", so Unsworth, "viele Probleme viel früher zu erkennen, als es bis dahin möglich gewesen wäre." Zurzeit verfügt Bentley über etwa 260 Design-Ingenieure, die im dem PLM-System arbeiten. Doch es ist geplant, durch vereinfachte Bedienungsoberflächen weit mehr Mitarbeiter in das PLM-System einzubinden und die Möglichkeiten der integrierten Dassault-Lösungen noch stärker zu nutzen. John Unsworth: "Mit PLM werden Daten lebendig. Die Dassault-Lösungen werden uns helfen, Entscheidungen schneller und effizienter zu treffen." So wird Walter Owen Bentley´s Traum vielleicht doch noch Realität: "A fast car, a good car, the best in its class."

Anzeige
Jetzt Newsletter abonnieren

Das könnte Sie auch interessieren

Anzeige

Virtual Machining-Software

Schuss ins Schwarze

Als Marke kennt man Weitner in den Kfz-Werkstätten führender Autohersteller. Kontinuierlich hat der Spezialist für Werkstattausrüstung in neueste Technologien investiert. Mit innovativen Produkten, neuen Fertigungsmethoden und aktueller...

mehr...
Anzeige
Anzeige

CAD-Software

Frisch aufgebrüht

Espresso Macchiato, Doppio oder Caffè Americano: Kaffeemaschinen von Thermoplan brühen – nicht nur bei Starbucks – auch ausgefallene Kundenwünsche auf Knopfdruck frisch auf. Das im schweizerischen Weggis ansässige Unternehmen setzt bei der...

mehr...
Anzeige

CAD/CAM-Lösung

Effizienz steigern mit SolidWorks 2017

Torqeedo ist Marktführer bei marinen E-Motoren und setzt seit der Gründung 2004 die CAD/CAM-Lösung SolidWorks ein. Anlässlich einer Pressekonferenz bei dem Motorenhersteller hatte SCOPE-Chefredakteur Hajo Stotz Gelegenheit, das bayerische...

mehr...

HSi auf der AMB

Mit CAD-Daten Fräszeiten berechnen

HSi ist zur AMB auf dem Innovation Park der IndustryArena vertreten. Den Besuchern wird eine durchgängige Prozesskette vorgestellt. HSi vertritt den Bereich der Arbeitsvorbereitung mit dem Aufgabengebiet “Kalkulation und Arbeitsplanung“.

mehr...
Anzeige
Anzeige
Anzeige